Kapitel 1 - Ein Engel im September
6. September 1986
‘Ich hasse lange Autofahrten. Keine Musik und das Geräusch, was der Motor macht, ist so unangenehm. Wir fahren in einem kleinen Ort in der Nähe von Jena. Zu einem Studienfreund meines Papas und dessen Familie. Mein Papa sagte, dass da jemand ist, den ich kennenlernen soll. Ich verstehe einfach nicht warum. Ich reiche mir aus, ich brauche niemanden. Auf der anderen Seite wünsche ich mir schon manchmal jemanden, der genauso ist wie ich. Meine Mama sagt mir immer, dass sie sich Sorgen macht, weil ich die ganze Zeit alleine bin und mit mir selbst rede.’
Während ich so in Gedanken versunken bin, kommen wir an.
Unser Auto hält auf dem Hof. Vier Leute kommen aus dem Haus und zu unserem Auto. Zwei Erwachsene und zwei Mädchen.
‘Mädchen? Wen soll ich kennenlernen?’
Die Größere der beiden sieht mich direkt an.
‘Leuchten ihre Augen hellblau?’
Ihre Haare sind sehr lang und fast weiß. Sie lächelt, während sie mich weiter ansieht.
‘Wer ist sie? Ich muss das unbedingt rausfinden!’
Meine Mama steigt als erstes aus. Die Mädchen beginnen ganz aufgeregt auf und ab zu hüpfen.
Mein Papa dreht sich um und sagt: „Wir sind da. Aussteigen! Ian alles in Ordnung?”
Das einzige was ich sagen kann, während ich das große Mädchen immer noch anstarre: „Wow, ein Engel!”
Mein Papa ist scheinbar überrascht: „Das fängt ja gut an! Willst du deinen Engel kennenlernen?”
Ich kann nur nicken. Wir steigen aus.
Wir werden einander vorgestellt. Familie Winter. Thomas der Papa, Jana die Mama, Sarah die Große der beiden Mädchen und Nadine die Kleine. Wir stehen, nachdem wir unsere Namen kennen, noch eine Weile draußen, die Erwachsenen unterhalten sich und auch meine Schwester Anika und Nadine wechseln Worte. Nur Sarah und ich sagen nichts, wir stehen uns gegenüber und starren uns an.
Sie sagt nach einer Weile: „Soll ich dir alles zeigen?”
Ich nicke nur. Sie nimmt meine Hand und ich erschrecke.
„Alles gut?”
Ich sehr leise: ”Ich mag es eigentlich nicht, wenn man mich anfasst.”
„Soll ich loslassen?”
‘Warum fühlt sich ihre Hand so vertraut an?’
„Auf keinen Fall!”, und bin von der Antwort selbst überrascht.
„Dann los! Wir haben zu tun!”
Sie rennt los und zieht mich mit, sodass ich fast stolpere.
Wir sind durch die Haustür und ziehen unsere Schuhe aus. Jeweils rechts und links eine Tür.
Sarah zeigt auf die Linke: „Da ist nichts drin, nur ein Abstellraum.”
Wir gehen durch die rechte Tür und stehen im Flur.
Sarah zeigt von rechts nach links auf die Türen. „Klo. Bad. Keller. Küche. Stube. Mit was fangen wir an?”
„Stube?”
„Klar.”
Wir gehen in die Wohnstube. Ich schaue mich um. Als erstes fällt mir die Musikanlage auf, ein anderes Modell als Zuhause. Ich erkenne aber, wie sie funktioniert und wie man sie bedienen muss. In der Schrankwand noch ein Fernseher.
Sarah scheint meinen Blicken zu folgen und sagt: „Wenn du willst, können wir heute Nachmittag gemeinsam Löwenzahn gucken.”
„Wäre schön. Der Mann ist wie sein Name, lustig!”
„Hier hinten ist mein Lieblingsplatz!”
Sie setzt sich aufs Sofa in eine Ecke.
„Komm her! Setz dich!”
Ich setze mich neben sie.
„Warum willst du nicht angefasst werden?”, fragt sie neugierig.
„Ich weiß nicht. Die meisten Menschen sind so kalt.”
„Kalt?”
„Wenn ich angefasst werde, tut das weh und ich habe das Gefühl zu erfrieren.”
„Und bei mir?”
„Irgendwie anders.”
Ich nehme ihre Hand und rede weiter: „Du fühlst dich warm und vertraut an, als würde ich dich schon lange kennen.”
„Das hört sich schön an”, sagt sie lächelnd und legt ihre andere Hand auf meine linke Wange.
‘Was ist das für ein Gefühl?’
Ich schließe die Augen.
Einen kurzen Augenblick später: „Wollen wir weiter?”
‘Nein, bitte nicht!’
Doch ich sage: „Okay.”
Wir stehen auf und gehen in die Küche.
‘Wow, ist die groß!’
Hinten beim Fenster steht ein richtig großer Esstisch.
„Willst du was trinken?”
„Sehr gerne.”
Sie holt sich einen Stuhl und nimmt zwei Gläser aus dem oberen Schrank.
„Was willst du?”
„Keine Ahnung. Was ist denn da?”
Sie guckt in den Kühlschrank: „Milch, Apfelsaft, Cola und Wasser.”
„Kann ich eine Cola?”
„Klar!”
Sie macht uns die Gläser fertig und gibt mir meins.
Wir stoßen an und sie sagt: „Ich freue mich riesig dich kennenzulernen!”
„Ich mich auch. Hören deine Augen irgendwann auf mit leuchten?”
„Wie die leuchten?”
„Die sehen so aus, als würden sie blau leuchten!”
„Vielleicht kann ich ja im Dunklen sehen!”, sagt sie grinsend.
Die Anderen kommen in die Küche und sehen uns.
Jana sagt: „Sarah, du bist ja eine richtig gute Gastgeberin!”, lobt sie ihre Tochter.
Wir trinken aus und ziehen weiter.
Sie bleibt vor der Kellertür stehen und warnt: „Wir Kinder dürfen nicht darunter, die Treppe ist zu steil.”
„Merk ich mir“, antworte ich.
Sie zeigt mir noch kurz das Bad und Klo, dann sagt sie: „Jetzt geht es oben weiter! Da sind noch das Kinder- und das Schlafzimmer.”
Wir gehen nach oben.
„Das da drüben ist das Zimmer meiner Eltern, ich geh da nicht gerne rein und hier ist das Zimmer meiner Schwester und mir.“
Wir gehen rein und ich schaue mich um. Ein großes, helles Zimmer, hinten beim Fenster, auf gegenüberliegenden Seiten, zwei Betten und dann noch Schränke und meiner Meinung nach, viel zu viel Spielzeug.
„Rate welches Bett meins ist!”
„Das mit dem hellblauen Bezug.”
„Richtig! Wie kommst du darauf?”
„Blau passt am besten zu dir.”
Sie lächelt mich an. Dann stellt sie mir ihr Spielzeug und ihr Bücherregal vor.
„Du hast ganz schön viel Spielzeug.”
„Du nicht?”
Ich schüttle mit dem Kopf.
„Nein, ich spiele nicht.”
Sie guckt mich verständnislos an.
„Jeder spielt doch!”
„Ich mag das nicht.”
„Dann muss ich dir das wohl beibringen!”, sagt sie sehr bestimmend.
Ich nehme ein Buch aus dem Regal und versuche den Titel zu lesen. ‘Alice im Wunderland‘
„Oh, mein Lieblingsbuch. Die Geschichte ist so schön. Der verrückte Hutmacher ist toll.”
„Kenn ich nicht. Muss man das kennen?”
„Wer mein Freund sein will, muss das gelesen haben!”
„Ich bin nicht gut im Lesen“, sage ich traurig.
„Das wird so langsam anstrengend. Muss ich dir noch was beibringen?”, fragt sie leicht genervt.
Ich schüttel mit dem Kopf: „Keine Ahnung. Im Augenblick nichts. Du willst meine Freundin sein?”
„Auf jeden Fall, aber ich brauche was von dir!”
„Was denn?”
„Lüg mich nie an und mecker mich nicht an. Vertrau mir einfach, okay?”
Ich nicke energisch.
„Wäre eine Umarmung okay?”, fragt sie vorsichtig.
Ich nicke wieder.
Sie umarmt mich und sagt: „Halt mich gefälligst fest!”
Ich lege meine Arme um sie.
‘Das fühlt sich toll an!’
Etwas später lassen wir uns los. Wir sitzen auf dem Boden und sie erklärt mir ihr Spielzeug sehr geduldig und wie man damit spielt. Ich verstehe es manchmal einfach nicht.
‘Das ergibt einfach keinen Sinn! Warum soll es sich bewegen, obwohl es sich nicht bewegen kann!’
„Ich verstehe das nicht, wie macht man das?”, frage ich sie.
„Du stellst es dir einfach vor.”
„Aber das ist doch nicht echt!”
„Darum geht es ja. Es passiert alles nur in deinem Kopf.”
„Wozu brauch ich dann das Spielzeug?”
„Damit das, was in deinem Kopf passiert, sich echt anfühlt.”
„Es fühlt sich also echt an, obwohl es nicht echt ist?”
Sie guckt mich komisch an: „Ähh, ich denke schon. Du denkst komisch!”
„Das höre ich oft!”
„Ich mag das! Vielleicht verstehe ich durch dich andere Sachen, die ich nicht verstehe.”
„Das hat noch keiner gesagt.”
„Juhu! Erste!”
Ich gucke sie verwirrt an.
„Bist du kitzlig?“, fragt sie schelmisch.
„Keine Ahnung! Mich darf ja niemand anfassen!”
„Darf ich?”
„Versuch es!”
Sie fängt an mich, erst vorsichtig, dann immer sicherer, durchkitzeln. Ich glaube, ich habe noch nie so laut gelacht. Völlig außer Puste, bitte ich sie aufzuhören. Sie lässt von mir ab. Wir liegen beide auf dem Boden nebeneinander.
„Das war neu! Du bist unglaublich toll! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie du! Ich hab dich gern”, sage ich euphorisch.
„Ich hab dich auch lieb! Ich will, dass der Tag mit dir nie endet.”
Wir spielen weiter und sie gibt nicht auf, auch wenn ich es nicht verstehe, mir alles zu erklären.
‘Warum hat sie so viel Geduld mit mir? Alle Anderen geben sonst auf!’
Dann zeigt sie mir noch ein weiteres neues Spiel, wir jagen uns gegenseitig durchs Haus. Jedes Mal, wenn wir den Anderen gefangen haben, halten wir uns fest und es ist ganz still.
‘Warum ist es so schön, sie festzuhalten?’
Nach einer ganzen Weile liegen wir in der Stube auf dem Fußboden, ich mit meinem Kopf auf ihrem Bauch.
„Das hat Spaß gemacht. Ich wusste, dass du spielen kannst!”, sagt sie völlig außer Puste.
„Das ist spielen?”
„Ja, einfach, oder?“
„Mit dir immer!”
Wir liegen noch eine Weile so da und werden dann zum Essen gerufen.
Wir sitzen am Tisch und ich sitze ihr gegenüber. Ich habe das Gefühl, ihre Augen leuchten noch heller. Während sich die Anderen unterhalten, verzieht Sarah ihr Gesicht.
‘Ist sie wütend?’
Plötzlich schreit sie: „So ist das nicht richtig! Ian muss neben mir sitzen!”
Alle gucken erschrocken. Ohne große Diskussion werden die Plätze getauscht. Jetzt sitze ich rechts von ihr. Sie nimmt meine Hand und drückt zu. Das Essen wird verteilt. Ich will nach meinem Besteck greifen, doch sie lässt meine Hand nicht los.
„Bekomm ich meine Hand zurück?”, will ich wissen.
„Nein, ich lasse dich nie wieder los!”
Ich bin verwirrt und sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.
‘Was war das?’
„Und wie jetzt weiter?”, frage ich sie.
„Du nimmst das Messer und ich die Gabel und dann essen wir!”, legt sie fest.
Nach ein paar Versuchen klappt das ganz gut. Mal von ihrem Teller, mal von meinem Teller. Wir werden ganz genau beobachtet und es wird sich scheinbar über uns amüsiert.
Meine Schwester: „Warum geht es immer nur um Ian?”
„Lass ihn, ich hab ihn noch nie so erlebt!”, sagt mein Papa.
„Das ist unfair! Er hat eine neue Freundin und ich nicht!”
„Ist Nadine nicht nett?”
„Doch, aber trotzdem! Er ist immer der Besondere!”
Ich kann nicht mehr einfach zu viel gegessen. Während Jana den Tisch abräumt, bleiben wir zwei weiter sitzen und beobachten ihre Mama.
„Geht hoch ins Kinderzimmer und ruht euch etwas aus“, sagt Jana.
Wir nicken fast gleichzeitig, stehen auf und gehen nach oben.
Angekommen wirft sich Sarah auf ihr Bett und sagt zu mir: „Komm her!”
Ich setze mich auf ihr Bett und gucke sie an.
„Leg dich schon hin, ich muss mich ausruhen und ich kann das nicht, wenn du mich anguckst!”
Wir liegen nebeneinander und ich bin plötzlich so müde!
Wir werden von Thomas geweckt.
„Eine Stunde Mittagsruhe reicht, glaub ich”, sagt er zu uns.
Erst jetzt merke ich, dass sich Sarah an meinem Arm festgeklammert hat. Ich versuche aufzustehen, es klappt nicht. Ich gucke Sarah an, sie hat immer noch die Augen geschlossen, grinst aber.
„Ich will aufstehen!”, sage ich verärgert.
„Ich aber nicht und ich lass dich nicht!”
„Warum?”
„Einfach so!”
„Wir können doch nicht den restlichen Tag im Bett liegen!”
„Wenn wir uns besser kennen, vielleicht ja doch! Okay, du hast gewonnen! Stehen wir auf!”
Wir gehen nach unten in die Küche. Sarah macht uns was zu trinken, ohne zu fragen und hält mir ein Glas hin.
„Bitte.”
„Danke! Woher wusstest du das?”
„Keine Ahnung. Hattest du nicht was gesagt?”
„Nicht laut!”
„Oh! Komisch.”
Thomas kommt in die Küche und sagt zu uns: „Ihr beiden geht bitte draußen spielen, erstens könnt ihr da so laut sein wie ihr wollt und zweitens haben dann die beiden anderen Mädchen das Kinderzimmer.”
„Okay“, sage ich leise.
„Toll, dürfen wir in den Pool?”, fragt Sarah.
„Wenn ihr wollt! Es ist warm genug.”
Ich habe mein Glas kaum ausgetrunken und weggestellt, nimmt Sarah meine Hand und reißt mich weg. Wir ziehen uns unsere Schuhe an und gehen raus. Es ist wirklich warm, angenehm warm. Blauer, fast wolkenloser Himmel, ein richtig schöner Tag, ich mag den Sommer, der verjagt die Kälte! Sie hält mich wieder an der Hand und rennt mit mir quer über das Grundstück bis zu einem Baum und ich entdecke ein großes grünes Wasserbecken. Sarah steckt ihre Hand ins Wasser.
„Perfekt!”, sagt sie.
Sie fängt an, sich auszuziehen.
‘Sie hat doch keinen Badeanzug!’
Sie steht kurz nackt vor mir und dann springt sie ins Wasser.
„Los jetzt du!”, sagt sie befehlend.
„Aber ohne Badesachen?”
„Na, und? Hast du noch nie ein nacktes Mädchen gesehen?”
Ich schüttle mit dem Kopf und schaue auf den Boden.
„Nein!”
Sie lacht und sagt: „Wieder Erste!”
„Was?”
„Es gefällt mir einfach bei dir die Erste zu sein! Bin ich was Besonderes?”
„Lass mich überlegen: Ich mag dich sehr! Du darfst mich anfassen. Ich will das sogar! Du hast mir beigebracht wie man spielt! Ich glaube, du bist was ganz Besonderes! Ich geb dich nie mehr her!”
„Wow, das war eine Erklärung! Jetzt zieh dich endlich aus und komm ins Wasser, es ist toll!”
'Vertrau mir einfach!’, höre ich ihr Echo im Kopf.
Ohne weitere Widerworte ziehe ich mich nackt aus und steige ins Wasser. Wie schon im Haus jagen wir uns durch das Becken und spitzen uns gegenseitig mit Wasser voll. Zwischendurch halten wir uns einfach nur gegenseitig fest.
‘Sie ist so warm und warum fühle ich mich bei ihr so toll? Was hat sie mit mir gemacht?’
Wir toben noch ganz lange herum und kitzeln uns gegenseitig durch. Wir haben einfach nur Spaß und ich fühle mich in ihrer Nähe einfach nur frei.
‘Ich glaube, ich muss mich hier nie verstecken!’, denke ich fröhlich.
Wir steigen aus dem Wasser, nehmen uns die Handtücher und fangen an, uns gegenseitig abzutrocknen.
‘Wo kommen die Handtücher her? Die waren doch vorhin nicht da!’
Ich trockne gerade ihren Rücken ab, da fällt mir das Handtuch runter und ich erschrecke. Meine Hand liegt kurze Zeit auf ihrem Rücken, ich nehm sie weg, dann nehme ich meinen Zeigefinger und fahre mit ihm von ihrem Hals bis nach unten die Mitte ihres Rücken ab.
„Das kitzelt schön!”, sagt sie kichernd.
„Darf ich auch mal?”
„Sicher.”
Ich drehe mich um und sie ihre Finger berühren meinen Rücken, ich bekomme Gänsehaut.
„Was ist das?”, frage ich erstaunt.
„Was denn?”
„Das fühlt sich komisch an!”
„Gut komisch?”
Ich nicke. Ich drehe mich zu ihr um und schaue ihr in die Augen.
‘Warum muss ich das tun? Ihre Augen!’
Im Gegensatz zu Anderen muss ich ihr in die Augen gucken, etwas was ich eigentlich nicht will. Wir heben wieder unsere Handtücher auf und trocknen uns fertig ab, aber nicht ohne den Anderen mit den Fingern vorsichtig zu berühren. Wir ziehen uns wieder an, gehen Hand in Hand zu einer Bank in der Nähe und setzen uns.
„Ich will dich besser kennenlernen! Erzähl mir von deiner Schule!”, will sie wissen.
„Ich mag die Schule nicht! Da ist es immer so laut und meine Lehrerin versteht mich nicht. Keiner in meiner Klasse will mit mir reden und sie sagen, dass ich seltsam bin. Nur die Mädchen sind manchmal neugierig.”
„Andere Mädchen sind auf dich neugierig? Gefällt mir gar nicht! Ab Heute gehörst du mir!”
„Ich gehöre dir? Was heißt das?”
„Niemand darf dich haben! Meine halt!”, sagt sie fast schon wütend.
„Gehörst du dann mir?”
„Geht ja nicht anders. Ab sofort passen wir auf einander auf!”
„Aufpassen? So wie unsere Eltern auf uns aufpassen?”
„Fast! Wir sorgen dafür daß sich der Andere nie alleine, traurig und immer fröhlich ist.”
„Ist das ein Versprechen?”
„Was denkst du denn!”
Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.
„Und jetzt du!”
Ich küsse sie vorsichtig auf die Wange.
„Das kannst du gerne häufiger tun!”, sagt sie kichernd.
„Also versprochen!”
„Versprochen!“
Wir reden noch eine ganze Weile, ich erzähle von Zuhause und dass ich in unserem Garten gerne stundenlang unter der großen Trauerweide sitze und die Stille genieße. Sie erzählt mir von ihrer Schule und das sie dort auch nicht mag, aber das Lernen ganz toll findet. Sie mag die anderen Mädchen in ihrer Klasse nicht, die verstehen nicht, was am Lesen so toll ist. Die Jungs findet sie auch blöd, die ziehen ihr immer an den Haaren, besonders wenn sie Zopf trägt.
„Hast du Hobbies?”, fragt sie neugierig.
‘Sie will wirklich alles wissen!’
„Was sind Hobbies?”
„Na, Sachen, die du machst, wenn keine Schule ist. Bei mir ist es das Lesen, ich lese eigentlich immer.”
„Ich denke nach und versuche die Menschen zu begreifen.”
„Das meine ich nicht! Dinge, die du zum Spaß tust!”
„Musik macht Spaß! Ich höre viel Musik.”
„Was denn für Musik?”
„Eigentlich alles, was da ist. Musik ist einfach und lässt mich Dinge fühlen. Auch sind andere Menschen Musik. Ich glaube, ich verstehe sie dann besser.”
„Bin ich ein Musikstück?”
„Weiß ich noch nicht. Hat dein Papa Schallplatten?”
„Ganz viele!”
„Darf ich die sehen und anhören?”
„Da müssen wir fragen.”
„Wollen wir?”
„Okay, gehen wir fragen!”
Wir stehen von der Bank auf und gehen langsam, Hände haltend, in Richtung Haus. Sie hat die ganze Zeit so ein zufriedenes Lächeln im Gesicht und ich glaube ich lächle auch. Wir gehen hinein und suchen Thomas. Wir finden ihn und Sarah fragt ihn, er fragt, ob er uns alles zeigen soll und ich versichere ihm, dass ich schon zurecht komme. Wir sollen aber vorsichtig sein, ermahnt er uns. Wir gehen in die Stube und ich gucke mir die Schallplattensammlung an. Ganz vorne steht die Platte ‘A Kind Of Magic’ von Queen. Erst jetzt bekomme ich mit, dass sowohl mein Papa und Jana auf dem Sofa sitzen, weil Sarah mit ihnen redet. Ich nehme die Schallplatte aus dem Regal und gucke mir zum wiederholten Mal das Titelblatt an, es ist so schön bunt, wie Sarah. Da fällt mir ein bestimmtes Lied ein.
Ich schaue zu meinem Papa und er sagt: „Nein, dass ist nicht deine. Die ist Zuhause. Ich habe eine andere Thomas heute mitgebracht. Er liebt, wie du, Queen.”
Ich nehme die Platte aus der Hülle und lege sie vorsichtig mit Seite zwei nach oben auf den Plattenspieler. Schalte die Anlage an und bewege die Plattennadel vorsichtig zum ersten Titel.
Der erste Ton ist zu hören und ich sehe Sarah an, die mittlerweile neben mir steht: „Das könntest du sein! Das Lied ist ruhig und laut zugleich!” „Wie heißt das Lied?”
„Who wants to live forever”
„Was heißt das?”
„Wer will ewig leben.”
„Ich! Ab jetzt mit dir!”
Sie grinst mich an und ich will ihr nur noch ganz nah sein. Ich tue was, was ich noch nie getan habe, ich nehme sie in die Arme und bewege mich vorsichtig zur Musik. Mit der Zeit werde ich immer sicherer, schließe die Augen, lass mich von der Musik wegtragen und sie presst sich regelrecht an mich.
‘Ist das ihr Herzschlag?’
Das Lied endet und das nächste beginnt. Ich lasse sie los, sie nimmt meine beiden Hände und hält mich so weiter fest. Sie sieht mich ganz genau an.
‘Nie wieder alleine!’
Nach einer Weile sagt sie leise und so unglaublich sanft: „Das war richtig schön! Ich werde dieses Lied immer hören, wenn du nicht da bist und ich dich vermisse.”
Die Stimme von Jana holt uns zurück: „Ich mache jetzt Abendbrot. In einer Stunde müssen die Wagners dann los.”
„Schon?”, sage ich überrascht.
„Muss das sein?”, sagt sie aufgebracht.
„Aber wir haben doch kaum Zeit gehabt!”, fügt sie hinzu.
„Ihr habt in Zukunft noch ganz viel Zeit“, versucht uns mein Papa zu beruhigen.
Ich nehme Sarah Hand und verlasse das Zimmer, wir setzen uns auf die Treppe nebeneinander und sie lehnt sich an mich an. Wir sprechen nicht.
Jana und Papa kommen aus der Wohnstube, wollen in die Küche gehen, sehen uns und Jana zu uns: „Helft ihr bitte mit.”
„Wenn es denn sein muss!”, sagt Sarah niedergeschlagen.
Wir gehen mit und helfen bei den Vorbereitungen, natürlich nicht ohne ständig zu betonen, dass das so ein schöner Tag war und wir nicht wollen, dass es endet.
Wir sitzen ganz still beim Essen, immer wieder legt sie ihren Kopf an meine Schulter und ich mache das Gleiche.
„Ihr habt euch ja richtig gut angefreundet!”, sagt meine Mama und ich schrecke hoch.
„Ja“, antworte ich leise.
Sarah nimmt meine Hand und hält sie sehr fest.
Mit überzeugter Stimme fügt Sarah hinzu: „Wir müssen uns auch anfreunden, wir heiraten ja auch, wenn wir groß sind!”
Stille am Tisch, überall überraschte Gesichter.
Nur Nadine kommentiert die Stille: „Darf er nicht! Das ist meine Schwester!”
„Jetzt hat er wieder gewonnen!”, sagt Anika dazu.
Alle fangen an zu lachen, nur wir beide sehen uns an und ich zu ihr ganz leise: „Wirklich?”
Sie nickt und lächelt.
Es wird Zeit für den Abschied. Wir stehen draußen und alle sind gut gelaunt. Wir zwei stehen uns gegenüber, ich weiß nicht was ich sagen soll, ich bin einfach nur traurig. Ihr scheint es ähnlich zu gehen, sie sieht mich nicht mal an.
Plötzlich erschreckt sie: „Ich habe was vergessen! Nicht weggehen!”
Sie rennt ins Haus und ist nach einer Weile wieder da. Sie lächelt und hält was in der Hand. Sie rennt zu mir und gibt mir zwei Sachen. Zum einen ein Buch und das andere ist ein Teddy.
Sie erklärt mir: „Ich gebe dir Alice mit, damit du lesen üben kannst, schreib deinen Namen neben Meinen, das gehört ab sofort uns beiden. Der Teddy heißt Bruno, mein Lieblingsteddy, damit ich immer bei dir bin.”
Wir umarmen uns und ich bin einfach überwältigt. Ich bin mir nicht sicher, wie lange wir so dastehen.
Ich höre meine Mama: „Ian genug! Wir wollen los!”
Sie darauf: „Wir sehen uns nächstes Wochenende, versprochen?”
„Natürlich!”
Ich steige ein, wir fahren los und winke ihr solange zu, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Die ganze Fahrt denke ich über den Tag nach und halte die ganze Zeit Bruno ganz fest.
Wieder Zuhause, ich gehe in mein Zimmer.
Mein Papa ruft mir hinterher: „Brauchst du irgendwas?”
Ich in gewohnter monotoner Stimmlage: „Nein, ich habe alles.”
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und schlage das Buch auf. Links oben steht ihr Name, ich streiche darüber, in der Hoffnung, ihr nah zu sein, dann nehme ich meinen Füller und schreibe meinen Namen daneben. Ich gebe mir Mühe, dass es schön aussieht. Dann lege ich mich aufs Bett, mit dem Buch und Bruno und versuche, die erste Seite zu lesen.
Am nächsten Morgen werde ich wach. Ich habe immer noch meine Sachen an und liege auf der Decke. Ich gehe ins Bad und mache mich fertig für den Tag, dann gehe ich in die Küche.
Meine Mama ist da und guckt mich fragend an: „Frühstück?”
Ich nicke, setze mich an den Tisch. Die ganze Zeit habe ich Bruno dabei.
Montag in der Schule. Eigentlich alles wie immer. Ich werde ignoriert. In der großen Hofpause gehe ich wie immer zur alten Sporthalle, da rauchen die neunt und und zehnt Klässler heimlich. Ich unterhalte mich mit ihnen. Sie behandeln mich seit der ersten Klasse wie einen von ihnen. Wir reden über Schulthemen und was so alles in der Welt passiert. Ich liebe es, ihnen zuzuhören und hin und wieder Fragen zu stellen. Keiner lacht mich für meine Fragen aus, im Gegenteil, es wird sogar manchmal festgestellt, dass ich an Wege denke, auf die sie nie gekommen wären.
Auf dem Weg zurück nach der Pause kommt Anja zu mir und fragt mich: „Irgendwas an dir ist anders! Du lächelst im Unterricht. Das hab ich bei dir noch nie gesehen!”
„Ich hab am Wochenende jemanden kennengelernt und sie ist die Erste, die mich versteht und ich weiß das sie mich genau deshalb mag.”
„Du hast eine Freundin?”
„Ja, ich denke schon.”
Ab da höre ich die ganze Zeit von meine Mitschülern: „Verliebt, Verlobt, Verheiratet!”
‘Warum habe ich es erzählt! Ich sollte am besten immer meine Klappe halten! Aber vielleicht haben sie ja recht!’
Die restliche Woche ist wie gewohnt. Nichts passiert. Zuhause, Schule, Zeit alleine genießen und neu dazugekommen, Sarah vermissen, aber dafür habe ich Bruno, den ich eigentlich immer bei mir trage, außer in der Schule, ich will nicht, dass er mir weggenommen wird! Ich muss, während der gesamten Woche, ihnen mit dem Thema Sarah so auf die Nerven gegangen sein. Das sie jetzt nur noch die Augen verdrehen, obwohl ich nur ihren Namen sage. Das Nerven hat, für mich, allerdings eine schöne Seite, am Freitag sagt mir mein Papa, dass wir wieder am Samstag rüber fahren, allerdings nur er und ich.